Plagten Mohr Schuldgefühle? (#13)

Wie geht es dir, wenn du am Heiligen Abend mit deinen Liebsten Stille Nacht singst? Werden nicht auch deine Augen dabei ein bisschen feucht? Was ist das denn, was so viele Menschen auf der ganzen Welt beim Singen von STILLE NACHT berührt? Ist es nicht wie eine Macht, die das Jahr über irgendwie in uns schlummert – bei Stille Nacht aber aufwacht und uns gleichsam überfällt?

Joseph Mohr, was hat ihn wohl berührt, als er das Weihnachtsgedicht Stille Nacht zu Papier brachte?

Ich habe in früheren Blogs, besonders im Blog 9, von der schicksalhaften Herkunft Joseph Mohrs und von der Beziehung zu seiner Mutter Anna erzählt. Schauen wir tiefer in die Geschichte hinein:

Vor 200 Jahren, zur Zeit der Aufklärung erschütterten gewaltige Umbrüche Kirche und Gesellschaft. Es war eine Zeit der Zerrissenheit zwischen Aufbruch mit unbekanntem Ziel und ängstlichem Kleben an Traditionen, zwischen Moral, „Sünde“, und Drang nach Freiheit. Die Emanzipation des Bürgertums rüttelte an den vermeintlich von Gott gewollten Herrschafts-Strukturen in Kirche und Gesellschaft. Das ist die Zeit, in die Joseph Mohr hineingeboren wurde.

Er hat diese Umbrüche am eigenen Leib erlebt. Seine Ideale, geprägt von den Traditionen der Kirche, schwankten zwischen Treue und Widerspruch. Er spielte seine Rolle in der Kirche und in der Gesellschaft als angehender Priester und Musiker. Aber die Säulen, auf denen das Leben, der Alltag, ruhen sollten, gerieten in der Zeit der Aufklärung gehörig ins Wanken.

Einsam im Pfarrhof in Mariapfarr, konnte sich der junge Priester Joseph Mohr nicht mehr an die schützenden Säulen des Doms in Salzburg klammern, sie schützten nicht mehr. Joseph stand nur sich selbst gegenüber – und seinem Gott. Er sah ihn nicht als einen richtenden Gott, wie ihn die traditionelle Kirche immer wieder gepredigt hatte, sondern als einen Gott, der als Bruder gekommen ist und das Schicksal mit den Menschen teilt.

Die Begegnung Mohrs mit Gott als huldvollem Vater, einem liebevollen DU, hat ihn mit seinem Schicksal versöhnt. Nicht das Chaos bestimmt das Leben, die Kirche und die Gesellschaft, sondern eine solche Begegnung. Sie stiftet Geborgenheit, die wir doch alle ersehnen. Viele alttestamentliche Psalmen besingen es: Nicht die Not zählt, sondern die Befreiung aus jedweder Knechtschaft – wenn auch nach einem mühevollen Gang durch die Wüste.

Scham- und Schuldgefühle haben da keinen Platz, Therapien oder Buße – auch nicht. Mohr bittet nicht unterwürfig um Verzeihung beim allmächtigen, richtenden, herrschenden Gott. Er preist in der vierten Strophe überschwänglich die „väterliche Liebe, mit der Gott huldvoll die Völker umschloss“. Die Gewissheit, geliebt zu sein, das ist es, was den Menschen trägt. Das ist die christliche Botschaft, wie sie Mohr in Stille Nacht verkündet.

Mohr fand seine „Erlösung“ nicht „im Himmel“, sondern ganz irdisch, in der Begegnung mit dem menschgewordenen Sohn Gottes als Bruder, der genauso hilfsbedürftig und auf Mitmenschen angewiesen ist wie er. In der Begegnung mit einem DU, da spielt sich das Leben ab, das ist göttlich, da geschieht Glück. Das ist die christliche Botschaft von Stille Nacht.

In der Begegnung Joseph Mohrs mit Franz X. Gruber ist diese Botschaft zu Musik geworden.

Thema im nächsten Beitrag: Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber – eine Begegnung macht Geschichte

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