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Weltbekannt – niemand fragt nach dem Ursprung? (#25)

Für viele Menschen auf der ganzen Welt ist das Weihnachtslied Stille Nacht so selbstverständlich, dass sie gar nicht nach seinem Ursprung fragen. Es berührt einfach die Menschen tief. Das macht Stille Nacht zu dem Friedenslied.

Man schätzt, dass alljährlich am Heiligen Abend Stille Nacht weltweit von 2 Milliarden Menschen gesungen wird. Da spüren wir die Weltgemeinschaft! Was steckt denn in diesem Lied, dass es uns alle ergreift? So manchem Menschen treibt es Tränen in die Augen!

Ich glaube, in diesem Lied steckt eine unendliche Liebe, wie sie nur eine Mutter und ein Vater geben kann. Joseph Mohr wuchs ohne Vater auf. Seine Mutter, Anna Schoiber, wird ihn wohl doppelt geliebt haben, auch wenn diese Liebe nur aus Sehnsucht bestand. Sie war wohl der brennende Dornbusch, der nie verbrannte, ohne wirklich zu begreifen, dass das das Wesen Gottes ausmacht.

Joseph Mohr hat in der christlichen Botschaft zärtliche Liebe und Urvertrauen gefunden – wie ein Kind, das nicht danach fragt, wo die Liebe herkommt. Es ist wohl diese intime Liebe, die das Lied Stille Nacht ausstrahlt. Es ist nicht die Liebe eines wohlwollenden Herrschers, der vom Himmel herab Güte fließen lässt, diese Liebe ist das liebevolle Lächeln eines hilfsbedürftigen Kindes.

Joseph Mohr hat diese innige Erfahrung in ein Gedicht gelegt, zunächst nur für sich, bis er in Oberndorf einen Freund fand, mit dem er diese Erfahrung teilen konnte: Franz Xaver Gruber, Dorfschullehrer in Arnsdorf. Er hat diese Erfahrung in die universale Sprache der Musik übersetzt. Sie strahlt eine so zärtliche Wärme aus, dass sie, wie die Liebe einer Mutter oder eines Vaters, nur mit einem zärtlichen Lächeln beantwortet werden kann.

Die vielen Übersetzungen von Stille Nacht haben oft nicht viel mit dem Originaltext zu tun. In der Melodie steckt die ganze Botschaft dieses Liedes. Sie pflanzt sich in einer Sprache fort, die alle verstehen, auch in der nichtchristlichen Welt – das ist echt katholisch!

Ich wollte in meinen Blogs keine sachlichen Erklärungen über Stille Nacht zum Besten geben, sondern schlicht und einfach erzählen, was mich in Stille Nacht bewegt. So möge uns dieses Lied als Geschwister verbinden. Vielleicht begegnen wir einander auch einmal in unserem kleinen Museum in Arnsdorf?

Stille Nacht und Sigmund Freud (#24)

Sigmund Freud markiert eine neue Epoche im Umgang mit menschlichen Problemen. Er unterstützt die Menschen, ihre oft verdrängte Vergangenheit ins Bewusstsein zu heben und die Selbstheilungskräfte zu wecken.

Joseph Mohr in Mariapfarr, als junger Priester muss ihm die Einsamkeit schwer zu schaffen gemacht haben. Seine verdrängte Vergangenheit – eine einzige Zerreißprobe. Ich bin mir sicher, da sind alte Wunden aufgebrochen. Wie viele Nächte wird er da wohl durchgeweint haben?

Und kein Psychiater in Sicht! Oder vielleicht doch!? Er fand Befreiung aus den seelischen Qualen und seine Heilung in der Begegnung mit einem Du. Einem Du, das in einer Krippe liegt, hilfsbedürftig wie er. Er sieht das Kind lächeln – „aus göttlichem Mund“, geborgen und geschützt in zärtlicher Liebe.

Die Last der Vergangenheit ist vergessen. Er spürt, dass er wie ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter geborgen ist. Sein Gott ist nicht ein strenger Richter im Himmel, sondern ein Bruder, der sein schicksalhaftes Leben teilt. Die Weihnachts-Botschaft heilt Joseph Mohr in Leib und Seele.

Joseph Mohr war Sigmund Freud hundert Jahre voraus. Sigmund Freud hatte die Probleme aus dem verdrängten Unterbewusstsein herausgeholt, hat sie beim Namen genannt, und hat so Menschen geheilt.
Joseph Mohr hat seine verdrängten Probleme in die Hände eines liebenden Vaters gelegt. Es war ein Du, das ihn geheilt hat.

Joseph Mohr hat seine Schmerzen hinter sich lassen können, weil er in seinem Glauben die uneingeschränkte Liebe eines gütigen Vaters fand und sein Schicksal mit einem hilfsbedürftigen Kind als Bruder teilen konnte. Ein hilfsbedürftiges Ich fand ein hilfsbedürftiges Du.

Wallfahrtsorte sind Orte, wo Sorgen, Bitten und Dankbarkeit voller Vertrauen vor ein Heiligtum getragen werden. Mariapfarr und Arnsdorf sind Jahrhunderte alte Wallfahrtsorte. Vielleicht haben die dortigen Begegnungen mit den Pilgern zum Wunder Stille Nacht beigetragen?

Stille Nacht klebt nicht an der Vergangenheit, wie bei Sigmund Freud. Stille Nacht „heilt“ im Jetzt, in der Begegnung mit einem Du. Im Hier begegnen einander Freud und Leid, Lachen und Weinen, Dankbarkeit und Sehnsucht – es ist ein Brennen, ohne zu verbrennen, das ist das Wesen Gottes.

Stille Nacht und die Aufklärung (#23)

Um 1800 gab es nach der Französischen Revolution gewaltige Umbrüche. Der Sturm auf die Bastei in Paris war auch ein Sturm auf die damalige gesellschaftliche Ordnung in ganz Europa. Eine Katastrophe für die großen und kleinen Machthaber.

Die Strukturen der Gesellschaft spiegelten sich auch in den Strukturen des Glaubens: Gott, der allmächtige Herrscher und Richter, bestimmt die Gebote und Regeln für die „Untertanen“, die Gläubigen, und verpflichtet sie zum Gehorsam. Lebt diese Vorstellung nicht noch immer in unseren Köpfen weiter? Wie viele Kriege werden damit gerechtfertigt? Ich meine die großen und kleinen „Kriege“, die Machtspiele in unserem Alltag.

Im Laufe der Geschichte haben sich viele religiöse Rituale und Bräuche entwickelt, die helfen sollten, die Nöte der Menschen zu lindern: vor den Blitzen zu schützen, gute Ernten einzufahren, Glück in der Liebe zu finden … Für jede Not war ein bestimmter Heiliger zuständig.

Ich möchte die schlichte Gläubigkeit der Menschen nicht geringschätzen. Sie drücken oft ein inniges Vertrauen zum lieben Gott aus – sie nehmen halt den Umweg über die Heiligen.

Stille Nacht kennt keine Heiligenverehrung, keine Rituale, die die menschlichen Sehnsüchte oder Wünsche erfüllen sollten. Stille Nacht kennt nur die „väterliche Liebe, mit der Gott in seinem Sohn die Völker der Welt umschloss“ (4. Strophe).

In Stille Nacht begegnen wir einem Gott, der sich nicht für Machtspiele missbrauchen lässt. Die Begegnung mit einem hilfsbedürftigen Kind ist es, was die Welt aufhellt. In Stille Nacht findet die Aufklärung ihren eigentlichen Sinn.

Stille Nacht bettet zärtlich die ganze Schöpfung in die Hände eines huldvollen Vaters, der nicht mit erhobenem Zeigefinger die Menschen zum Gehorsam mahnt, sondern zärtlich berührt. Machtspiele haben da keinen Platz.

Strukturen mögen für eine gesellschaftlich Ordnung nützlich sein – sie sind es aber nur vorläufig, sie erfüllen keinen Selbstzweck.

Joseph Mohr war ein Revolutionär, er hat die herkömmlichen Machtstrukturen umgedreht, die Hilfsbedürftigkeit des Jesuskindes gepriesen und all den Ballast, der sein Leben ständig begleitet hatte, auf die Müllhalde der Geschichte geworfen. Joseph Mohr ist in Lobpreis aufgegangen und hat damit auch Franz Xaver Gruber angesteckt!

Die Aufklärung ist noch nicht abgeschlossen, wir sind noch auf dem Weg – Gott sei Dank! So lebt die Sehnsucht, die unser Leben ausmacht, weiter.

Die Macht der Hilflosigkeit (#22)

Stille Nacht umfängt viele Millionen von Menschen auf der ganzen Welt wie eine unsichtbare Macht! Da muss es etwas in uns Menschen geben, was als Lebenskraft in uns schlummert und durch Stille Nacht geweckt wird – und uns verbindet.

Stille Nacht berührt große und kleine „Kinder“. Es weckt die Zuneigung, die jeder Mensch wie die Luft zum Atmen braucht! Da steckt viel
Gern-Haben drinnen. Da sind wir Menschen ganz wir selbst.

Hilflosigkeit, Not, Armut „provozieren“ Helfen. Das ist gut, aber ist es nur das Helfen, was eine Beziehung ausmacht? Das Helfen kann in unserem Beziehungsgeflecht auch Rollen zuteilen und dadurch Macht ausüben. Eine Begegnung aber, die auch ohne Helfen auskommt, verhindert, dass das Helfen zu einer bedrohlichen Macht wird.

Die vierte Strophe in Stille Nacht spricht nicht von Helfen. Sie drückt es so aus: „… wo sich heut‘ alle Macht väterlicher Liebe ergoss und als Bruder huldvoll umschloss, Jesus die Völker der Welt“.

In herkömmlichen Kommentaren wird oft gesagt, dass Franz Xaver Gruber und Joseph Mohr die Menschen in der damals so schwierigen Zeit mit Stille Nacht trösten wollten.

Ich meine: Helfen und Trösten sind bei Stille Nacht kein Thema.
Helfen ist eine schöne christliche Tugend. Aber wenn die christliche Botschaft auf Helfen reduziert wird, so etwas wie „helfen ist christliche Pflicht“, verliert sie den Kern der christlichen Botschaft und tappt in eine unchristliche Falle: Es trübt die schlichte Frohbotschaft, dass unser Schicksal in den Händen eines uns in Liebe zugeneigten Vaters liegt.

Klingt das egoistisch? Ja, weil ich da ganz Ich bin – geliebt, getröstet, geschützt, geborgen. Spricht das gegen das Helfen? Im Gegenteil! Es befreit vom Verpflichtungsstress und öffnet den Weg zu einer fruchtbaren Begegnung, die ohne Hilfsapelle auskommt. Das Teilen bekommt in Stille Nacht eine göttliche Dimension, weil Gott unser Schicksal als Bruder teilt.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Hilfe auf der Welt ist bitter nötig, Hilfsappelle auch. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, das auf Solidarität angewiesen ist. Stille Nacht ist aber ein Lobpreis, aus dem diese Solidarität ohne Machtanspruch erstehen kann.

Ich meine auch: Hilflosigkeit, Schwachheit, Bescheidenheit sind Machtfaktoren, die keine Machtstrukturen benötigen. Der Lehrer Franz Xaver Gruber war kein Oberlehrer, der seinem Freund Joseph Mohr Ratschläge erteilt hat. Es war die eng freundschaftliche Begegnung der beiden, die zu Musik geworden ist und uns so Kräfte freigesetzt hat, die bis heute die ganze Welt bewegen!

Hilfsprojekte, Predigten, soziales Engagement gewinnen ungemein an Strahlkraft, wenn sie aus dem Herzen strahlen und nicht an Machtstrukturen kleben. So werden sie zu Machtfaktoren – wie Stille Nacht.

Stille Nacht – ein Gebet? (#21)

Beten, ist das nicht ein verstaubter Begriff? Verstaubt, ja, aber was ist unter dem Staub begraben? Betest du manchmal? Wie denn? Knieend? Stehend? Mit gefalteten Händen? Beten nur fromme Menschen? Du siehst, das Beten kennt viele Formen und kann vieles bedeuten!

Schauen wir das Vaterunser an. Nach Matthäus 6, 9–13, hat uns Jesus selbst zu beten gelehrt. Der erste Teil preist Gott im Himmel, dessen Name geheiligt werde und sein Reich kommen möge. Erst im zweiten Teil wird die Bitte ausgesprochen, er möge für unser tägliches Brot sorgen und unsere Sünden vergeben.

Stille Nacht hält auch Zwiesprache mit einem Du und sieht in einem hilfsbedürftigen Kind den Sohn Gottes, der unser Bruder geworden ist. Gott umarmt als Vater die Völker der Erde so zärtlich, wie man es nur mit einem Kind tun kann. Hier verschmelzen Himmel und Erde.

Was gefällt dir besser? Das Preisen oder das Bitten? Spielen wir diese Grundworte nicht gegeneinander aus. Beide drücken eine vertraute Zwiesprache mit einem Du aus.

Joseph Mohr bittet nicht um Hilfe in der Not. Er preist, dass er geborgen in den Händen eines gütigen Vaters liegt. Er redet ihn mit Du an. Da bleibt kein Platz für ein unterwürfiges Bitten an einen mächtigen Herrscher, er möge ihm in der Not beistehen.

Für Joseph Mohr ist Gott kein Macher und der Mensch ist kein armes Wesen. Ein liebendes Du kennt kein oben oder unten. Das verleiht dem Menschen göttliche Würde. Schuld und Schwächen zählen nicht.

Stille Nacht ist eine zärtliche Zwiesprache mit einem väterlichen Du, das die Zärtlichkeit in unserem täglichen Umgang mit Menschen mit einschließt – und das ist „göttlich“. Stille Nacht ist ein Gebet in seiner reinsten Form.

Stille Nacht – biblische Wurzeln (#20)

Keine Angst, ich werde dich nicht mit einem theologischen Diskurs langweilen! Ich möchte nur ein paar Gedanken, die mir unter den Nägeln brennen, mit dir teilen.

Die Heilsgeschichte des Christentums ist auch in Joseph Mohr Geschichte geworden. Es ist eine Begegnungsgeschichte, die schon im Alten Testament im 2. Buch Mose eindrucksvoll geschildert wird: Nach vier Jahrhunderten der Versklavung des Volkes Israel in Ägypten, offenbart sich Gott als Begegnung mit Moses im brennenden Dornbusch (Exodus 3).

Der einfache Hirte Moses bekommt von Gott den Auftrag, sein Volk aus der Versklavung zu befreien und ins gelobte Land zu führen. Der brennende Dornbusch, der nicht verbrennt, bezeugt die Botschaft, dass die Israeliten die Unterdrückung, Versklavung überstehen werden. So offenbart sich Gott nicht vom Himmel herab, sondern als Brennen, das das Volk Israel begleitet.

Nicht die Götter-Kultstätten anderer Völker sind heilige Orte, sondern das Brennen, das Brennen heute ist das Heiligtum, vor dem man die Schuhe in Ehrfurcht ausziehen muss. Jene, die Tempel bauen, sind Heiden. Gott ist kein thronender Herrscher über die Menschen, sondern Feuer – das Brennen ist heilig, der Dornbusch ist das Leben – die Dornen gehören dazu.

Diese Botschaft aus dem Alten Testament hat gewaltig viel mit uns heute zu tun! Wir sind in kirchliche und gesellschaftliche Strukturen eingebunden und leben mit Schlössern, Kirchen, Kathedralen, Klöstern, Hierarchien … sie werden aber alle zu Asche, nur das Brennen bleibt ein ewiges Heiligtum!

Stell dir das Wort „Gott“ als Eigenschaftswort vor: Ein Zitat eines altgriechischen Philosophen sagt (sein Name ist mir nicht präsent): „Es ist gott, wenn zwei Liebende einander begegnen“. Du kannst auch deine brennende Sehnsucht „gott“ nennen. Gott ist nicht ein starres, statisch herrschendes Subjekt, von dem man sich ein Bild machen kann. Gott ist das Brennen im Leben – ein Brennen bis in die Haarspitzen hinein.

Was hat das alles mit Stille Nacht zu tun? Für Joseph Mohr ist der brennende Dornbusch in Jesus Mensch geworden – Brennen, Liebe, Sehnsucht gehören zusammen. Der göttliche Mund strahlt zärtlich Liebe aus, er lacht, liebevoll betrachtet vom heiligen Paar (2. Strophe)! Das ist der Gnaden Fülle (3. Strophe). Das ist die Macht väterlicher Liebe, mit der er als Bruder die Völker der Erde umschloss (4. Strophe).

Joseph Mohr stand in Mariapfarr vor einem brennenden Dornbusch. Alles, was sein Leben bedrückt hatte, war zu Asche geworden, es blieb das Brennen, sonst nichts! Es war ein Brennen in Geborgenheit, wie in den Armen einer Mutter. Nenn´ es Sehnsucht, die nie gestillt werden kann, die brennt, ohne jemals zu verbrennen, ohne Asche.

Das ist das Heilige: Bei den Israeliten hatte die Erfahrung des Einzugs ins Gelobte Land nach ihrem mühseligen Gang durch die Wüste, in die Lobpreisungen in den Psalmen gemündet. Bei Joseph Mohr ist das Heilige in das Weihnachtsgedicht Stille Nacht geflossen. Paläste, Tempel, Kathedralen, die Macht der Hierarchien und ihre starren Strukturen sind für die Asche bestimmt.

Kirche als „Inkubator“ (#19)

Ist Stille Nacht ein Kirchenlied? Es enthält die Kernbotschaft des christlichen Glaubens! Aber warum hat es in der kirchlichen Liturgie keinen Platz gefunden?

Stille Nacht wird normalerweise außerhalb der Liturgie gesungen – meist nach der Christmette – und im privaten und intimen Rahmen in einer familiären Weihnachtsfeier.

Wir erfreuen uns an feierlichen Messen – ein Kunstgenuss, der unser Gemüt bewegt. Erleben wir dabei auch den Kern der christlichen Botschaft? Ja, irgendwie schon, das Feierliche, die Hoch-Stimmung trägt ja gen Himmel. Das Schöne hat immer etwas Göttliches an sich – aber was ist mit jenen, die verzweifelt am Boden liegen, weit weg von jedem Kunstgenuss?

Frage: Ist die Kirche die Hüterin „ewiger Wahrheiten“?
Ja, sie ist aber kein Eisschrank, der Wahrheiten konserviert. Ihre Dogmen sind keine göttlichen Pflöcke, an denen sich der wahre Glaube zu orientieren hat!

Als Machtfaktor hat die Kirche immer wieder die Verkündigung der Frohbotschaft aus den Augen verloren und vielen Menschen auch schreckliches Unglück gebracht. Sie wurde in der Verkündigung der christlichen Botschaft nur wirksam, wenn Menschen die sicheren Häfen der etablierten Kirche verließen und zu neuen Ufern aufbrachen. Franz von Assisi möge ein Beispiel dafür sein.
Die Kirche wurde nach der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert zu einer mächtigen Institution, die sich durch die Gründung des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ noch weiter verfestigte.

Als sie aber begann, mit den Mächtigen dieser Welt zu liebäugeln, lief sie immer wieder Gefahr, die eigentliche christliche Botschaft aus den Augen zu verlieren – allzu oft ist sie in der Geschichte dieser Gefahr erlegen.

Ein Wunder: Der Kern der christlichen Botschaft ist – auch unter den Trümmern der Geschichte – lebendig und keimfähig geblieben! Die Kirche hat immer wieder Menschen hervorgebracht, die diesen Keim zum Leben erweckt und zum Blühen gebrachten haben.

Das waren nicht immer besonders fromme Menschen, die die Gebote Gottes besonders brav und streng befolgt haben. Es waren „Aussteiger“, die die sicheren Mauern verlassen haben.

Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber waren keine Heiligen. Sie passen in kein Schema für einen Heiligsprechungsprozess! Sie haben keine Wunder gewirkt – oder doch? Ihre Wunder kamen aber nicht aus dem Jenseits. Ihr Wunder: Sie haben die Herzen von Millionen von Menschen berührt und tun das bis heute.

Die Bitten an Gott um Hilfe in der Not zeigen inniges Vertrauen zum Schöpfer, sie sind aber für Gruber und Mohr kein Thema. Ihr Thema: Lobpreis, weil wir in den Händen eines „huldvollen Vaters“ geborgen sind, wie ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter. Das ist der Kern der christlichen Botschaft.

Die Kirche ist Verwalter dieser christlichen Botschaft. Ihre Machtstrukturen, ihre Moralpredigten, ihr Pomp können den Kern dieser Botschaft nicht ersticken. Gruber und Mohr, beide tief in der Kirche verwurzelt, haben durch ihre Begegnung diesen Kern gefunden und in Stille Nacht zum Blühen gebracht. Die Kirche war Inkubator, der dieses Wunder ermöglicht hat.

Stille Nacht – eine Glaubensverkündigung? (#18)

Joseph Mohr soll ein begnadeter Prediger gewesen sein. Hat er das in seinem Theologiestudium gelernt? Hat er es genial verstanden, die christliche Botschaft in packende Worte zu fassen und von der Kanzel kraftvoll herunterzuschmettern? Das passt doch gar nicht zu dem, was sein Weihnachtsgedicht Stille Nacht ausmacht!

Ich glaube, die Botschaft von Stille Nacht würde gar nicht in eine Predigt passen. Vielleicht ist es gerade dieses un-predigthafte, was bei Stille Nacht so viele Menschen berührt. Stille Nacht als Belehrung für die Gläubigen von der Kanzel herab? Unvorstellbar! Die Botschaft dieses Liedes enthält mehr als schöne Worte.

Ich meine, „ewige Wahrheiten“ sind langweilig! Sie schweben so hoch über den Menschen, dass sie sie nicht wirklich berühren. Ich halte „ewige Wahrheiten“ für extrem gefährlich, sie können als Machtinstrumente missbraucht werden, sie können sogar töten! Wie viele Kriege sind schon im Namen der Religion geführt worden?!

Stille Nacht vertritt keine Religion, vertritt keine Lehre, drängt sich nicht auf. Es berührt einfach, wie ein Kind strahlt es Hoffnung aus – Hoffnung, die nicht aus dem Jenseits kommt, sondern von einem Kind, das von einer Frau geboren worden war. Gott offenbart sich in Stille Nacht irdisch, als einer von uns, im Schwachen. Ist nicht das der Kern der christlichen Botschaft? Diese Botschaft braucht keine Dogmen, keine Heiligen, keine mächtigen Dome und auch keine Hierarchie! Sie ist Musik, Lobpreis, Freude – und ist hochgradig ansteckend!
Stille Nacht besingt die christliche Botschaft in einer Tiefe, wo alle Menschen wie Kinder einander berühren. Dort verbindet sich der Mensch mit dem Göttlichen.

Joseph Mohr hatte sein Weihnachtsgedicht Stille Nacht als intimes „Glaubensbekenntnis“ zwei Jahre lang mit sich getragen, behütet wie einen „Schatz“, nur für sich, „geschützt“ vor der traditionellen Glaubensverkündigung jener Zeit! Bis er in Oberndorf Franz Xaver Gruber, Lehrer im benachbarten Arnsdorf, begegnete. Mit ihm konnte er diesen Glauben teilen, in Musik verwandeln und so in Stille Nacht der ganzen Welt verkünden.

Fortschrittlich-traditionell, revolutionär-konservativ, diese Gegensätze spielen bei Stille Nacht keine Rolle. Die Begegnung in der Tiefe zählt, dort, wo die Menschen einander berühren und das Leben teilen. Gruber und Mohr fanden diese Tiefe. So konnte Gruber die passende Melodie für Mohrs Weihnachtsgedicht Stille Nacht finden. So wurde ein Friedenslied geboren – für die Schiffer, Bauern und Handwerker in Oberndorf, für alle Menschen auf der ganzen Welt.

Stille Nacht im Schützengraben (#17)

Flandern (Belgien), Weihnachten 1914, bei Ypern stehen deutsche und englische Soldaten feindlich einander gegenüber, die Schützengräben oft keine 100 Meter voneinander entfernt. Ein erbarmungsloser Stellungskrieg, der bis dahin schon eine halbe Million Opfer gefordert hatte: Familienväter, Bauernsöhne, Handwerksgesellen, Lehrer ….

Beim Einrücken waren sich die Soldaten sicher, Weihnachten wieder im Kreis ihrer Familien feiern zu können. Die anfängliche Begeisterung für den Kampf für Gott und Vaterland wich – angesichts der zerfetzten und verbluteten Kameraden – bald dem Entsetzen und der Hoffnungslosigkeit. Der Tod war ständiger „Gast“ im Schützengraben. Englische wie deutsche Soldaten hingen wie geschlagene Hunde über dem Abgrund, im Dreck, in der Kälte, einsam, weit weg von seinen Lieben, die „Hose voll“!

Joseph Mohr, befand er sich fast hundert Jahre zuvor nicht auch in einer ähnlichen Situation? Der „Feind“ lag nicht im Schützengraben gegenüber, sondern in ihm selbst, seiner persönlichen Geschichte. In Mariapfarr, da taten sich Abgründe auf, er stand einsam vor den Trümmern seiner Vergangenheit, weit weg von seiner vertrauten Welt in der Stadt Salzburg – und die Zukunft?

Joseph Mohr spürte, dass Gott nicht hoch oben im Himmel thront, sondern unser Vater geworden ist, dessen „Sohn in Liebe aus seinem göttlichen Mund“ zu uns lacht. (2. Strophe). Joseph Mohr jubelt mit zärtlichen Worten, mit Poesie. Er besingt in der vierten Strophe überschwänglich die Macht der väterlichen Liebe, mit der er in seinem Sohn „huldvoll die Völker der Erde umschloss“.

Franz Xaver Gruber, Lehrer und Organist in Arnsdorf und Oberndorf verstand im Weihnachtsgedicht Stille Nacht diesen Lobpreis und fand die passende Melodie dazu. So bahnte sich ein Friedenslied den Weg in die Herzen rund um die Welt.

Stille Nacht brachte zu Weihnachten 1914, in der Urkatastrophe im 20. Jahrhundert, die Waffen zum Schweigen! Feinde wurden zu Freunden, die Geschenke austauschten, einander Fotos ihrer Liebsten zeigten, sogar Fußball spielten.

Harte Getränke, die den Stress und die Angst bei Angriffen betäuben sollten, dienten nun einem freundschaftlichen Prost. Diese Soldaten taugten nicht mehr zum Kriegsführen. Sie wurden ausgetauscht. Die Mächtigen setzten das Gemetzel fort. Der Friede bleibt doch eine zarte und zerbrechliche Pflanze, die aber gegen alle Widerstände immer wieder aufkeimt und Blüten hervorbringt – wie Stille Nacht.

Stille Nacht – Schatz des Lebens (#16)

Stille Nacht sagt es zwischen den Zeilen: Begegnung ist ein anderes Wort für Leben.

In der Begegnung, da spielt sich’s ab! Ich sage es immer wieder. Du kannst noch so gescheit reden, wenn nicht auch das Herz spricht, bleibt es ein „tönendes Erz“, sagt Paulus (1. Kor., 13.1). Was auch innerlich berührt, das ist es, was die Menschheit reicher macht, auch wenn es nur stotternd herauskommt. Weißt du, wie wertvoll du bist? Komisch, du fühlst dich unwichtig. Aber das ist es, was dich stark macht! Wie denn das?

Schau, deine Unsicherheit, deine Schwachheit, deine Bescheidenheit machen deinem Gegenüber spürbar, dass er/sie auch schwach und unsicher sein darf. So ist Begegnung möglich, so entsteht Raum für Neues. Wissen allein, als reiner Besitz, ist wie ein Eisschrank. Der Eisschrank konserviert Güter – sie bleiben aber starr und einsam. Erst aufgetaut dienen sie dem Leben. Teile deine Schwachheit, und sie wird sich in Stärke verwandeln!

Stell dein Licht nicht „unter den Scheffel“ (Mt. 5, 14–16, Bergpredigt)! Dein Licht gehört nicht dir allein. Dein Leben gehört dem Universum. Du bist ein Schatz, so wie du bist! Deine Zweifel, deine Minderwertigkeitsgefühle, deine Hoffnungslosigkeit, all das ist nicht schön. All das wird aber zu einem Schatz, wenn du dich davon nicht versklaven lässt, sondern mit den Mitmenschen teilst! Das macht dich liebenswürdig.

Joseph Mohr hat sein Schicksal, das in der etablierten Gesellschaft nur mit Verachtung gesehen wurde, zu einem Schatz gemacht. In der Begegnung mit einem Du, dem hilfsbedürftigen Jesuskind, und „der Stein, den die Bauleute verworfen hatten, wurde zum Eckstein“ (Psalm 118,22 / Mt. 21,42). Sein Schatz bekam einen Namen: Stille Nacht.

Joseph Mohr hat alles, was sein Leben bedrückt hatte, in die Abfallgrube der Geschichte geworfen. Nur die Botschaft, dass uns Gott in einem hilfsbedürftigen Kind begegnet, zählt. So hat Mohr diese Botschaft in zärtlicher Poesie mit Franz Xaver Gruber geteilt. Da wurde eine Begegnung zu Musik, die in Stille Nacht den Weg um die ganze Welt gefunden hat.

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