Joseph Mohr soll ein begnadeter Prediger gewesen sein. Hat er das in seinem Theologiestudium gelernt? Hat er es genial verstanden, die christliche Botschaft in packende Worte zu fassen und von der Kanzel kraftvoll herunterzuschmettern? Das passt doch gar nicht zu dem, was sein Weihnachtsgedicht Stille Nacht ausmacht!
Ich glaube, die Botschaft von Stille Nacht würde gar nicht in eine Predigt passen. Vielleicht ist es gerade dieses un-predigthafte, was bei Stille Nacht so viele Menschen berührt. Stille Nacht als Belehrung für die Gläubigen von der Kanzel herab? Unvorstellbar! Die Botschaft dieses Liedes enthält mehr als schöne Worte.
Ich meine, „ewige Wahrheiten“ sind langweilig! Sie schweben so hoch über den Menschen, dass sie sie nicht wirklich berühren. Ich halte „ewige Wahrheiten“ für extrem gefährlich, sie können als Machtinstrumente missbraucht werden, sie können sogar töten! Wie viele Kriege sind schon im Namen der Religion geführt worden?!
Stille Nacht vertritt keine Religion, vertritt keine Lehre, drängt sich nicht auf. Es berührt einfach, wie ein Kind strahlt es Hoffnung aus – Hoffnung, die nicht aus dem Jenseits kommt, sondern von einem Kind, das von einer Frau geboren worden war. Gott offenbart sich in Stille Nacht irdisch, als einer von uns, im Schwachen. Ist nicht das der Kern der christlichen Botschaft? Diese Botschaft braucht keine Dogmen, keine Heiligen, keine mächtigen Dome und auch keine Hierarchie! Sie ist Musik, Lobpreis, Freude – und ist hochgradig ansteckend!
Stille Nacht besingt die christliche Botschaft in einer Tiefe, wo alle Menschen wie Kinder einander berühren. Dort verbindet sich der Mensch mit dem Göttlichen.
Joseph Mohr hatte sein Weihnachtsgedicht Stille Nacht als intimes „Glaubensbekenntnis“ zwei Jahre lang mit sich getragen, behütet wie einen „Schatz“, nur für sich, „geschützt“ vor der traditionellen Glaubensverkündigung jener Zeit! Bis er in Oberndorf Franz Xaver Gruber, Lehrer im benachbarten Arnsdorf, begegnete. Mit ihm konnte er diesen Glauben teilen, in Musik verwandeln und so in Stille Nacht der ganzen Welt verkünden.
Fortschrittlich-traditionell, revolutionär-konservativ, diese Gegensätze spielen bei Stille Nacht keine Rolle. Die Begegnung in der Tiefe zählt, dort, wo die Menschen einander berühren und das Leben teilen. Gruber und Mohr fanden diese Tiefe. So konnte Gruber die passende Melodie für Mohrs Weihnachtsgedicht Stille Nacht finden. So wurde ein Friedenslied geboren – für die Schiffer, Bauern und Handwerker in Oberndorf, für alle Menschen auf der ganzen Welt.