Was hat Joseph Mohr wohl bewogen, das Weihnachtsgedicht Stille Nacht zu schreiben? War er ein genialer Schriftsteller, ein Poet? Welchen Zweck, welche Wirkung, wollte er damit beim Publikum erreichen?
Vergessen wir all diese Fragen, betrachten wir Stille Nacht von einer ganz anderen Seite!
In Stille Nacht ist eine biblische Geschichte zu Musik geworden: In Psalm 118.22 und Mt. 21.42 steht: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, wurde zum Eckstein“. Wie passt das zu Stille Nacht? Joseph Mohr war als lediges Kind für die Gesellschaft ein Kind der Schande, für die Kirche ein Kind der Sünde – und für sich selbst? Ich weiß es nicht! Aber eines sehe ich: Aus einem gesellschaftlichen Sumpf ist ein Lied entsprossen, das Millionen von Menschen auf der ganzen Welt berührt! Wie denn das?
Ich habe in vorigen Blog-Beiträgen vom Umgang Joseph Mohrs mit seiner gar nicht „standesgemäßen“ Herkunft erzählt. Er konnte damit leben, weil er sie verdrängt hatte. In Mariapfarr, seiner ersten Stelle als Priester, da tauchen aber plötzlich quälende Fragen auf: „Wer bin ich, was will ich, was kann ich, was darf ich …?“
In der Stadt Salzburg, da war alles so klar, die Rituale des Alltags haben das Leben geordnet. Und was nicht den Normen entsprach? Jetzt, in Mariapfarr, weit weg von den ordnenden Ritualen in Salzburg, steht Joseph plötzlich einsam da, wie vor einem bedrohlichen Abgrund – schlimmer: wie vor einem gähnenden Nichts!
Aber da war ein unsichtbares Netz, das ihn auffing: Die Liebe seiner Mutter, wir wissen nicht, wie diese Liebe ausgeschaut hat, die Wertschätzung seines Ziehvaters, des Domchorvikars Nepomuk Hiernle – und die Liebe, die er in der christlichen Botschaft fand. In seinem Theologiestudium erkannte Joseph Mohr: Gott hat sich in der konkreten Geschichte offenbart, er hat die Israeliten durch die Wüste ins gelobte Land geführt. Die Israeliten haben in vielen Psalmen ihre Freude und Zuversicht feierlich besungen.
Mohrs Leben war auch ein Gang durch die Wüste, er fand das „Gelobte Land“ in der christlichen Botschaft. Sein Lobpreis – das Weihnachtsgedicht Stille Nacht – er behielt diesen intimen Lobpreis zunächst nur für sich. Ich glaube, er konnte die Tragweite seines Gedichts selbst gar nicht fassen. Vielleicht musste es in seinem Innersten noch reifen, bevor er es mit seinem Freund Franz Xaver Gruber und den Schiffern in Oberndorf teilen konnte? Aber wie? Mit Worten? Keine noch so ausgefeilte Predigt hätte das geschafft.
Nur Musik konnte das schaffen! Musik eines genialen Künstlers? Nein! EineBegegnung ist zu Musik geworden: Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber pilgerten im Oktober 1818, zwei Monate bevor Stille Nacht entstand, nach Altötting. Im gemeinsamen Gehen haben sie auch ihr Leben geteilt. So konnte Mohr sein intimes Weihnachtsgedicht Stille Nacht seinem Freund Gruber anvertrauen, damit er die passende Melodie dazu schaffe.
Die Schiffer, die Handwerker, die Bauern, alle in Oberndorf sollten einander begegnen und an der befreienden Weihnachtsbotschaft teilhaben. Nur Musik konnte das schaffen. So hat ein Lied die Welt und die Geschichte reicher gemacht.