Was hat Stille Nacht, dass es so viele Menschen auf der ganzen Welt berührt? Eigentümlich, kaum jemand stellt sich diese Frage! Es gehört einfach wie selbstverständlich zu Weihnachten dazu, und das nicht nur im christlichen Kulturkreis. Vielleicht ist es das, weil es das Kind in uns berührt – in allen von uns, egal ob Christen oder Nicht-Christen, ob Japaner, Chinesen, Afrikaner oder Latinos.
Geborgenheit, geliebt werden, sich in sicheren, wärmenden Händen erleben – das ist es doch, was unser Leben ausmacht, oder? Allein bin ich tatsächlich ein Nichts! Wie muss sich Joseph Mohr wohl 1816 in Mariapfarr gefühlt haben – weit weg von seiner trauten Umgebung in der Stadt Salzburg, allein, hin und her gerissen zwischen Treue und Widerstand in der Kirche? Bei wem hätte er sich anlehnen können?
Niedergeschlagen und verzweifelt, da ging zu Weihnachten plötzlich eine Tür auf – ein Du war die Rettung! Ein Kind, hilfsbedürftig, wie er, lächelte ihn an! Alles, was ihn sein Leben lang geplagt hatte, zählte nichts mehr. Sein Ich ist nicht mehr allein, es ist einem ganz zarten Du begegnet, er konnte sich fallen lassen und war sich ganz sicher, dass er in Hände fallen würde, die ihn auffingen, wie ein Kind auf dem Schoß einer Mutter. Joseph Mohrs Freude floss in einen Lobpreis, dem Weihnachtsgedicht Stille Nacht.
Erste Strophe: „… das traute Heilige Paar…“. Intimes Vertrauen, ich bin nicht allein, ich bin Teil einer Familie. „… schlaf´ in himmlischer Ruh!“ So ein zärtliches, vertrautes Du – ein Du, das nicht vom Jenseits kommt! Ein Du, geboren von einer Frau, so wie ich! Das ist es, „was uns der Gnaden Fülle lässt seh´n“ (3. Strophe).
4. Strophe: Du hast uns mit väterlicher Liebe umgossen – als Bruder – als irdischer Jesus, nicht als verklärter Christus aus dem Jenseits! Du umarmst huldvoll die Völker der Welt und hast uns alle zu Brüdern und Schwestern gemacht. Stille Nacht ist kein Lied mit erhobenem Zeigefinger. Es ist einfach ein Lied, das uns Menschen als Geschwister verbindet. Ein Friedenslied!
5. Strophe: „…aus der Väter urgrauer Zeit aller Welt Schonung verhieß“. Wir sind schon immer zum Heil bestimmt, nicht erst durch den Opfertod Jesu am Kreuz. Gott hat schon immer die „Schonung der ganzen Welt“, nicht nur der Christen, versprochen.
6. Strophe: „… Hirten erst, kundgemacht …“ Mach dir nichts draus, wenn du nicht in der ersten Reihe stehst, wenn dich kein Titel ziert, wenn du in der Gesellschaft nur eine Nebenrolle spielst. Du bist der erste Adressat einer Friedensbotschaft, die allen Menschen gilt, du bist einer der ersten, der diese Botschaft auch versteht!
Was hat Joseph Mohr wohl bewogen, das Weihnachtsgedicht Stille Nacht zu schreiben? War er ein genialer Schriftsteller, ein Poet? Welchen Zweck, welche Wirkung, wollte er damit beim Publikum erreichen?
Vergessen wir all diese Fragen, betrachten wir Stille Nacht von einer ganz anderen Seite!
In Stille Nacht ist eine biblische Geschichte zu Musik geworden: In Psalm 118.22 und Mt. 21.42 steht: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, wurde zum Eckstein“. Wie passt das zu Stille Nacht? Joseph Mohr war als lediges Kind für die Gesellschaft ein Kind der Schande, für die Kirche ein Kind der Sünde – und für sich selbst? Ich weiß es nicht! Aber eines sehe ich: Aus einem gesellschaftlichen Sumpf ist ein Lied entsprossen, das Millionen von Menschen auf der ganzen Welt berührt! Wie denn das?
Ich habe in vorigen Blog-Beiträgen vom Umgang Joseph Mohrs mit seiner gar nicht „standesgemäßen“ Herkunft erzählt. Er konnte damit leben, weil er sie verdrängt hatte. In Mariapfarr, seiner ersten Stelle als Priester, da tauchen aber plötzlich quälende Fragen auf: „Wer bin ich, was will ich, was kann ich, was darf ich …?“
In der Stadt Salzburg, da war alles so klar, die Rituale des Alltags haben das Leben geordnet. Und was nicht den Normen entsprach? Jetzt, in Mariapfarr, weit weg von den ordnenden Ritualen in Salzburg, steht Joseph plötzlich einsam da, wie vor einem bedrohlichen Abgrund – schlimmer: wie vor einem gähnenden Nichts!
Aber da war ein unsichtbares Netz, das ihn auffing: Die Liebe seiner Mutter, wir wissen nicht, wie diese Liebe ausgeschaut hat, die Wertschätzung seines Ziehvaters, des Domchorvikars Nepomuk Hiernle – und die Liebe, die er in der christlichen Botschaft fand. In seinem Theologiestudium erkannte Joseph Mohr: Gott hat sich in der konkreten Geschichte offenbart, er hat die Israeliten durch die Wüste ins gelobte Land geführt. Die Israeliten haben in vielen Psalmen ihre Freude und Zuversicht feierlich besungen.
Mohrs Leben war auch ein Gang durch die Wüste, er fand das „Gelobte Land“ in der christlichen Botschaft. Sein Lobpreis – das Weihnachtsgedicht Stille Nacht – er behielt diesen intimen Lobpreis zunächst nur für sich. Ich glaube, er konnte die Tragweite seines Gedichts selbst gar nicht fassen. Vielleicht musste es in seinem Innersten noch reifen, bevor er es mit seinem Freund Franz Xaver Gruber und den Schiffern in Oberndorf teilen konnte? Aber wie? Mit Worten? Keine noch so ausgefeilte Predigt hätte das geschafft.
Nur Musik konnte das schaffen! Musik eines genialen Künstlers? Nein! EineBegegnung ist zu Musik geworden: Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber pilgerten im Oktober 1818, zwei Monate bevor Stille Nacht entstand, nach Altötting. Im gemeinsamen Gehen haben sie auch ihr Leben geteilt. So konnte Mohr sein intimes Weihnachtsgedicht Stille Nacht seinem Freund Gruber anvertrauen, damit er die passende Melodie dazu schaffe.
Die Schiffer, die Handwerker, die Bauern, alle in Oberndorf sollten einander begegnen und an der befreienden Weihnachtsbotschaft teilhaben. Nur Musik konnte das schaffen. So hat ein Lied die Welt und die Geschichte reicher gemacht.
Wie geht es dir, wenn du am Heiligen Abend mit deinen Liebsten Stille Nacht singst? Werden nicht auch deine Augen dabei ein bisschen feucht? Was ist das denn, was so viele Menschen auf der ganzen Welt beim Singen von STILLE NACHT berührt? Ist es nicht wie eine Macht, die das Jahr über irgendwie in uns schlummert – bei Stille Nacht aber aufwacht und uns gleichsam überfällt?
Joseph Mohr, was hat ihn wohl berührt, als er das Weihnachtsgedicht Stille Nacht zu Papier brachte?
Ich habe in früheren Blogs, besonders im Blog 9, von der schicksalhaften Herkunft Joseph Mohrs und von der Beziehung zu seiner Mutter Anna erzählt. Schauen wir tiefer in die Geschichte hinein:
Vor 200 Jahren, zur Zeit der Aufklärung erschütterten gewaltige Umbrüche Kirche und Gesellschaft. Es war eine Zeit der Zerrissenheit zwischen Aufbruch mit unbekanntem Ziel und ängstlichem Kleben an Traditionen, zwischen Moral, „Sünde“, und Drang nach Freiheit. Die Emanzipation des Bürgertums rüttelte an den vermeintlich von Gott gewollten Herrschafts-Strukturen in Kirche und Gesellschaft. Das ist die Zeit, in die Joseph Mohr hineingeboren wurde.
Er hat diese Umbrüche am eigenen Leib erlebt. Seine Ideale, geprägt von den Traditionen der Kirche, schwankten zwischen Treue und Widerspruch. Er spielte seine Rolle in der Kirche und in der Gesellschaft als angehender Priester und Musiker. Aber die Säulen, auf denen das Leben, der Alltag, ruhen sollten, gerieten in der Zeit der Aufklärung gehörig ins Wanken.
Einsam im Pfarrhof in Mariapfarr, konnte sich der junge Priester Joseph Mohr nicht mehr an die schützenden Säulen des Doms in Salzburg klammern, sie schützten nicht mehr. Joseph stand nur sich selbst gegenüber – und seinem Gott. Er sah ihn nicht als einen richtenden Gott, wie ihn die traditionelle Kirche immer wieder gepredigt hatte, sondern als einen Gott, der als Bruder gekommen ist und das Schicksal mit den Menschen teilt.
Die Begegnung Mohrs mit Gott als huldvollem Vater, einem liebevollen DU, hat ihn mit seinem Schicksal versöhnt. Nicht das Chaos bestimmt das Leben, die Kirche und die Gesellschaft, sondern eine solche Begegnung. Sie stiftet Geborgenheit, die wir doch alle ersehnen. Viele alttestamentliche Psalmen besingen es: Nicht die Not zählt, sondern die Befreiung aus jedweder Knechtschaft – wenn auch nach einem mühevollen Gang durch die Wüste.
Scham- und Schuldgefühle haben da keinen Platz, Therapien oder Buße – auch nicht. Mohr bittet nicht unterwürfig um Verzeihung beim allmächtigen, richtenden, herrschenden Gott. Er preist in der vierten Strophe überschwänglich die „väterliche Liebe, mit der Gott huldvoll die Völker umschloss“. Die Gewissheit, geliebt zu sein, das ist es, was den Menschen trägt. Das ist die christliche Botschaft, wie sie Mohr in Stille Nacht verkündet.
Mohr fand seine „Erlösung“ nicht „im Himmel“, sondern ganz irdisch, in der Begegnung mit dem menschgewordenen Sohn Gottes als Bruder, der genauso hilfsbedürftig und auf Mitmenschen angewiesen ist wie er. In der Begegnung mit einem DU, da spielt sich das Leben ab, das ist göttlich, da geschieht Glück. Das ist die christliche Botschaft von Stille Nacht.
In der Begegnung Joseph Mohrs mit Franz X. Gruber ist diese Botschaft zu Musik geworden.
Thema im nächsten Beitrag: Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber – eine Begegnung macht Geschichte
Vor Weihnachten 2020, habe ich in 11 Blog-Beiträgen Gedanken über die sechs Strophen von Stille Nacht geteilt. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass es sich immer wieder um das Thema BEGEGNUNG drehte. Auch dieses Jahr möchte ich bis Weihnachten Gedanken über Stille Nacht mit dir teilen – vielleicht wird dich das eine oder andere Thema überraschen!?
Gibt es in deinem Leben neben deinen Eltern auch Menschen, ohne die dir dein heutiges Leben gar nicht vorstellbar wäre? Ich meine dabei nicht nur Freunde, liebevolle Tanten und Onkeln, „lästige“ Geschwister. Ich meine auch Menschen, deren Leben aus Brüchen bestand, geplagt von Zweifel und Minderwertigkeitsgefühlen, die trotzdem für dich wichtig waren und sind. Vielleicht kennst du sogar jemanden, dich inklusive, dessen Leben hauptsächlich aus Sehnsucht besteht?
Anna Schoiber, die Mutter Joseph Mohrs, begegnete schon in jungen Jahren dem Tod. Sie hatte mit 8 Jahren ihren Vater verloren! Wir sagen gerne: „die Zeit heilt Wunden, das Leben geht weiter“. Ja, es geht weiter – aber anders! Eine Stütze im Leben, die wegbricht, kann nicht beliebig ersetzt werden! Es bleibt eine Sehnsucht, die das ganze weitere Leben bestimmt – wie bei Anna.
Anna und ihre Mutter verdienten in Salzburg ihren Lebensunterhalt als Strickerinnen. Wichtige Kunden waren Leute vom Hof des Fürsterzbischofs waren: Beamte, Diener, Hofdamen, Stallknechte, etc. – Socken, Strümpfe, Fäustlinge, Mützen braucht ja jeder. Ich vermute, dass Mutter und Tochter Schoiber nicht nur als Lieferanten von warmen Socken eine Rolle spielten, sondern auch als Lieferanten von Herzenswärme – im Schatten des mächtigen Doms.
Anna Schoiber gebar Joseph als ledige Mutter. Sie musste bei der Behörde anzeigen, dass sie „auf dem Mönchsberg ein fleischliches Verbrechen begangen habe“. Diese Selbstanzeige minderte die Strafe, die für ein solches Vergehen vorgesehen war. Der wohlhabende Scharfrichter Wohlmut übernahm die Patenschaft und hat die Strafe beglichen. Eine gute Tat, die seinem Ansehen gut tat!
Anna Schoiber gebar vier Kinder – von verschiedenen Männern. Du kannst dir vielleicht den Ruf in dieser etablierten Gesellschaft voller Tabus vorstellen! Nur ein Panzer wie der einer Schildkröte konnte ihre Würde vor den Blicken der Mächtigen schützen. Unter dem Panzer bahnte sich das Leben aber trotzdem unbändig seinen Weg. Das Tabu bot Schutz zum Überleben, trotz Angst, Scham und schlechtem Gewissen. Die moderne Psychologie nennt das „Verdrängen“.
Unter dem schützenden Panzer hat das Leben gebrodelt. Beim kleinen Joseph ist dieses Leben zu Musik geworden. Der Domchorvikar Nepomuk Hiernle hat seine wunderschöne Stimme entdeckt und ihm eine Ausbildung ermöglicht. Als Sängerknabe in St. Peter und im Dom fand er seine Rolle im gesellschaftlichen Leben. Die Tabus blieben verdrängt.
1809, es war die Zeit der napoleonischen Kriege, ist das Leben in Salzburg schwierig geworden. Da besuchte Joseph zwei Jahre hindurch das Gymnasium im Stift Kremsmünster und verdiente sein Leben als Musiker. Dort wurde er aber als elternlos registriert. Nur der Domchorvikar Nepomuk Hiernle wurde als Ziehvater angegeben. Hat Joseph seine Mutter verleugnet? Warum hat Hiernle mit-verdrängt?
Mariapfarr 1816, die ersten Weihnachten Joseph Mohrs als junger Priester, weit weg von seiner vertrauten Welt in der Stadt Salzburg, da ist sein schützender Panzer geplatzt. Sein Tabu-Gebäude ist in sich zusammengestürzt, die Plagegeister seiner Herkunft tauchten erbarmungslos auf, die verdrängten Wunden – ein einziger Schmerz. Nun stand er da, wie nackt und ungeschützt! Schande, Armut, das schlechte Gewissen demütig ertragen – brav die Gebote erfüllen, das alles half nichts!
Das Leben hat den Panzer und die starren Mauern gesprengt – auch jene der „mächtigen unfehlbaren“ Kirche.
Die Liebe zwischen Mutter Anna und Sohn Joseph, auch wenn sie nur aus Sehnsucht bestand, hat Leben zum Keimen gebracht, ausgetragen im Schoß der Kirche. So wurde aus dem verachteten Abschaum der Gesellschaft ein Lied geboren, das bis heute viele Millionen von Menschen rund um den Erdball im Herzen berührt.
Das ist die Weihnachts-Botschaft von STILLE NACHT.
Hast du alle meine bisherigen 10 Blogs angeschaut? Nicht alle? Macht nichts, du kannst das nachholen. Sie steuern nämlich auf den heutigen Blog zu und du wirst dann besser verstehen, was dieses einzigartige Weihnachtslied Stille Nacht ausmacht. Es rührt in uns um, ganz tief, ohne klar zu verstehen, wo das herkommt. Oder? Das passiert bei vielen Menschen auf der ganzen Welt so. Ist es nicht das ganz innere Gefühl, dass wir zusammengehören, dass wir nicht allein sind auf der Welt? Diese meine ganz persönliche Erfahrung will ich mit dir teilen – sonst nichts! Manche meinen, dass meine Videos wie Predigten klingen! Ach, ich kann damit leben, solange sie nicht wie von der Kanzel herab klingen! Moralpredigten gehen mir total durch den Strich, auch wenn sie noch so gescheit klingen! Ich will einfach nur teilen, was mich berührt – wirklich, sonst nichts!
Joseph Mohr hat mit seinem Weihnachtsgedicht Stille Nacht sein Lebensschicksal mit seinem Freund Franz Xaver Gruber geteilt. Eine Begegnung zweier Menschen, die auf der Welt Spuren hinterlassen hat – sie wurde Musik, die ganze Welt soll daran teilhaben! Die ersten Hörer waren die Schiffer von Oberndorf, ihre Wirtshauskumpanen, Bauern, fest geerdete Leute! – verankert im Alltag. Es war eine Begegnung zweier ganz verschiedener „Welten“! Joseph Mohr, ein Stadtkind, trifft auf das Landkind Franz Xaver Gruber. Eine quasi erotische Begegnung, aber ohne sexueller Komponente!
Ich erzählte im vorigen Blog, dass der Tod ein ständiger Begleiter Grubers war. Ich erzählte, dass die beiden gemeinsamen Kinder mit Elisabeth, seiner ersten Frau, im Kindesalter starben. Ein Töchterchen starb genau zu Weihnachten drei Jahre bevor Stille Nacht entstand! Vielleicht sollte es ein Wiegenlied sein – fürs Jesuskind und für seine zwei Töchterchen im Himmel?
Entschuldigung, jetzt werde ich ein bisschen philosophisch: die wesentlichen Veränderungen werden nicht gemacht, sie geschehen – oft in der menschlichen Begegnung, ob wir wollen oder nicht, ob uns das bewusst ist oder nicht. Daher nützen Moralaufrufe etc. gar nichts. Sie erzeugen nur ein schlechtes Gewissen und Frust, weil sie ohnehin nur unzulänglich erfüllt werden könnten. Unsere inneren Impulse bahnen sich selbständig ihren Weg. Wir sind dagegen „machtlos“! Sie sind auch ein Teil von dir! Lass sie zu, lass sie raus! Das macht dich frei! So wirst du sehen, wie einzigartig und wichtig du bist!
Gute Ideen/Theorien, Diskussionsergebnisse von Komitees etc. mögen gut und nützlich sein – wirken aber nur wirklich auf der Ebene der menschlichen Begegnung. Die eigentlichen Veränderungen geschehen dann dort von selbst.
Gruber begegnete Mohr nicht mit gescheiten Gedanken und guten Ratschlägen. Er teilte sein Schicksal – und daraus wurde Musik! Musik, die uns ins Mark dringt – auch ein Scheitern auffängt.
Auf heute umgelegt: Joseph Mohr hat nicht gesagt: „Hi Franz, mein Freund, du bist a super Musiker, I schick dir per Whatsapp a schönes Weihnachtsgedicht, könnst net a passende Melodie dazua komponieren, es passert perfekt zum Heiligen Abend, vielleicht wird’s sogar a Hit!“
Er hätte wohl eher gesagt: „Franz, wir sind vor zwei Monaten nach Altötting gegangen. Da hab ich dir beim Gehen viel von mir erzählt, auch von meiner Wut gegen meinen Vorgesetzten, den Pfarrer Nöstler, der hoch droben in Maria Bühel thront und ganz böse Briefe über mich ans Konsistorium in Salzburg schickt: mein Verhalten sei nicht priesterlich, ich sänge nächtlicherweile im Wirtshaus, – nicht nur erbauliche Lieder, ich scherze mit dem anderen Geschlecht! …
Du, Franz, hast mir so aufmerksam zugehört. Ich hab das Gefühl, du verstehst meine Verzweiflung. Bei dir fühl ich mich wie ein anderer Mensch, wie ein Bruder! Ein Erlebnis! Teilen wir Dieses Erlebnis mit den Schiffern in Oberndorf! Du bist musikalisch, i bin musikalisch und den Leuten in Oberndorf gefällt es, wenn wir singen. Die Musik ist ja die Sprache des Teilens, es ist die Sprache, die jeder versteht, die jeder spürt.
Eine ganz und gar zynische Frage: warum müssen wir bis zu einem schrecklichen menschlichen Tiefpunkt gelangen, damit so eine Perle wie Stille Nacht entstehen kann? Sollten wir nicht Katastrophen herbeiführen, damit wir kreativ werden können – je grauslicher, desto besser??? Schrecklich! Ich habe dazu auch keine einfache klare Antwort!
Aber eines weiß ich: Probleme sind Teil unseres Lebens. Wenn wir sie wahrnehmen, annehmen, teilen – dann wecken sie unsere Selbstheilungskräfte! Dann sehe ich, ich bin nicht allein!
Die Frage aber bleibt: warum brauche ich ein Problem, damit ich diese so grundlegende Erfahrung mache? Schau! Nicht nur Probleme verbinden. Auch die Freude verbindet! Sie kommt auf – im Leben, in der BEGEGNUNG. Vorsicht! Die Freude ist „hochgradig ansteckend“!!!
Die gemeinsame Zeit von Gruber und Mohr in Oberndorf währte nicht lange, kaum zwei Jahre. Mohr musste Oberndorf wieder verlassen. Gruber begleitete ihn nach Salzburg und widmete ihm ein Abschiedslied. Er schrieb später in einem Brief an seinen Freund in Hochburg-Ach, Andreas Peterlechner, dass sein Abschiedslied Mohr so rührte, dass er beim Abschied bitterlich weinte, sich in sein Zimmer einsperrte und sich verbat, den Rest des Tages gestört zu werden.
Weihnachten – da berührt Stille Nacht besonders, gell? Nach all dem, was ich dir in den vergangenen Blogs erzählt habe, wirst du Weihnachten heuer anders erleben?
Eigentlich wollte ich dir nur sagen:
Wenn du im Kreis deiner Lieben Geborgenheit fühlst, denk an Joseph Mohr, der wie ein hilfsbedürftiges Kind bei all seinem dramatischen Leben im Jesuskind Geborgenheit gefunden hat. Er sah, dass er nicht allein war.
Wenn du einsam bist, denk daran – auch Mohr war einsam als er dieses Weihnachtsgedicht Stille Nacht schrieb und damit die ganze Welt beschenkte.
Wenn du in der Dunkelheit der Nacht zur Christmette gehst, dann weißt du, in der Kirche warten viele Lichter auf dich und du wirst die Gemeinschaft spüren.
Wenn ungeduldige Kinderaugen auf das Christkindl warten – es werden nicht nur die Geschenke sein, auf die sie sich freuen. Da steckt auch Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit dahinter!
Wenn du Stress hast, die Melodie von Gruber wird dich beruhigen!
Alles darf sein, auch du darfst so sein, wie du bist. Das ist die Botschaft des Christkinds!
Ich wünsche dir weit offene Ohren, damit du auch die leisen Töne, die das Leben spielt, hörst – und ein ganz offenes Herz, damit Musik in deinen Blutkreislauf hinein einfließt und du ganz DU sein kannst.
Im letzten Blog war der Priester Joseph Mohr unser Thema. Heute: Der Lehrer Franz Xaver Gruber.
Waren die beiden solche Genies, dass sie so ein Lied schaffen konnten?
Ich glaube, sie waren Menschen wie du und ich.
Franz Xaver Gruber, geboren 1787 in Hochburg-Ach, Oberösterreich, ist mit 5 Geschwistern aufgewachsen: Ein Paar Stück Vieh gaben den Tagesrhythmus vor. Als Leinenweber war die Familie im Ort angesehen, aber als Kleinhäusler gehörte sie wohl nicht zu Mächtigen im Dorf.
Als Franz Xaver, der „Franzl“, neun Jahre alt war, traf die Familie ein Schicksalsschlag: Die Mutter starb. Nun musste der Franzl bald Verantwortung für die Familie mitübernehmen und den Vater in der Weberei unterstützen. Aber da war doch etwas, was in ihm bohrte und ihm keine Ruhe ließ!?
Sein Lehrer Andreas Peterlechner, hatte es ihm angetan. Sein Orgelspielen zog ihn in den Bann. Wie oft wird der Franzl wohl heimlich auf die Orgelempore hinaufgeschlichen sein, um seinem Lehrer ganz nahe zu sein. Vielleicht wäre er am liebsten in das Orgelgehäuse hineingekrochen, um zu erforschen, wo und wie da die Töne herauskommen. Andreas Peterlechner erkannte die Begabung des Buben und gab ihm heimlich Orgelunterricht – der Vater sollte es nicht wissen! Später wendete sich das Blatt, der Vater kaufte ihm sogar ein Spinett im 5 km entfernten Burghausen und trug es persönlich nach Hause. Ja, Burghausen, – da bekam der Franzl später auch professionellen Orgelunterricht, vom bekannten Stadtpfarrorganisten Hartdopler. Die Karriere des Franzl nahm seinen Lauf – er wurde Lehrer, die Ausbildung erhielt er in Ried im Innkreis (OÖ). Hast du eine Vorstellung, wie lang das gedauert hat? – drei Monate! Das war 1807. Und wo findet er nun eine Anstellung als Lehrer?
Die kirchliche Schiene hat funktioniert! Das Benediktinerstift St. Peter (Salzburg) besaß Gründe in Hochburg-Ach. Und das Benediktiner Stift Michaelbeuern brauchte für ihre Schule in Arnsdorf dringend einen Lehrer. Mehr noch, Arnsdorf, dieser Jahrhunderte alte Wallfahrtsort, brauchte dringend auch einen Organisten! Welch wunderbare Fügung! Die Benediktiner haben zusammengespielt: Gruber erhielt die Stelle – aber – da gab es vorher Probleme zu lösen:
Salzburg war damals (1807) noch nicht bei Österreich! Er musste daher die in Oberösterreich abgelegten Lehrer-Prüfungen in Salzburg wiederholen. Sicher kein großes Problem.
Er sollte in Österreich Militärdienst leisten – und das in der Zeit der napoleonischen Kriege! Hätte er einrücken müssen, hätten wir heute sicher kein Stille Nacht Lied. Der Abt von Michaelbeuern hat es geregelt, dass Grubers Gerichtszugehörigkeit von Wildshut (OÖ) nach Salzburg übertragen wurde. Er brauchte ja so dringend einen Lehrer und Organisten für Arnsdorf! Hat also auch funktioniert.
Die Lehrer- und Mesnerwohnung in der Schule in Arnsdorf war nicht frei! Dort lebte Elisabeth Fischinger, die Witwe seines Vorgängers, mit ihren zwei Kindern!
Die Lösung?:
Er heiratet sie. Sie war eine junge Witwe, 33, Franz war damals 20! Elisabeth, als eingesessene Mesnerin, dürfte es wohl an Selbstbewusstsein nicht gemangelt haben. Der Gruber Franzl, praktisch veranlagt, wie er war, wird damit kein Problem gehabt haben. – da er sich nun ganz seinem Beruf als Lehrer und Organist widmen konnte. Doch Liebe war schon auch dabei! Sie hatten zwei Kinder miteinander. Die starben aber schon als Kleinkinder.
Der Tod war ein ständiger Begleiter Grubers. Seine Frau stirbt mit 51. Bald darauf heiratet er seine ehemalige Schülerin Maria Breitfuß (19 Jahre jünger). Sie war Küchenhilfe bei Pfarrer Werigand Rettensteiner, vermutlich hat sie der Pfarrer immer wieder zu Gruber geschickt, um ihm beim Haushalt zu helfen. Aber, wie gesagt: Gruber, der praktische Typ, ….. Mit Maria hatte Franz 10 Kinder, aber sechs starben im Kindesalter, nur 4 überlebten. Maria stirbt mit dem letzten Kind auch, mit 34 Jahren! Das war schon in Hallein. Eine Freundin der Familie, die Witwe Katharina Wimmer aus Böckstein, wurde daraufhin seine dritte Frau. Als angesehener Chorregent und Organist führte Gruber in Hallein ein gutbürgerliches Leben. Da er nicht mehr als Schullehrer unterrichtete, konnte er sich nun ganz der Musik widmen. Er komponierte an die hundert Musikstücke, meistens für den kirchlichen Gebrauch: Messen, Andachtslieder, … In seinem Nachlass fand man auch einen dicken Ordner mit Zeichnungen, alle ganz fein ausgearbeitet.
Zurück in Arnsdorf. Gruber muss ein fleißiger und geschickter Lehrer gewesen sein, in einer Beurteilung über ihn, 1821, wurde er als „liebevoll in Behandlung der Jugend und von bester Aufführung“ beschrieben. Er hatte in der einklassigen Schule 6 Schulstufen mit ca. 35 Kindern zu unterrichten. Eigentlich eine angenehme Situation. Die Schülerzahl in anderen Schulen lag durchwegs über 100! Der Lehrer wurde durch das Schulgeld der Kinder bezahlt. Daher hätte er bei dieser Schülerzahl nicht genug zum Leben verdient. Aber er erhielt auch eine Art Grundgehalt vom Stift Michaelbeuern – und die Wallfahrer haben seine Orgeldienstegebührend entlohnt. Die Arnsdorfer Bauern werden wohl auch dafür gesorgt haben, dass er was „Gscheites“ zum Essen hat. Insgesamt würde ich Gruber nicht als dürftigen Dorfschullehrer bezeichnen.
Gruber war auch Kulturträger. Er verfasste anlässlich der 300-Jahrfeier der Kirche in Arnsdorf eine ausführliche Geschichte über diese Wallfahrtskirche „Maria im Mösl“. Wir zeigen das handgeschriebene Original in unserer aktuellen Sonderausstellung!
Über die von Gruber organisierte Säkularfeier 1820 wurde folgendes berichtet:
„…es wurden unter der Leitung des Hr. Gruber, Schullehrers und Meßners vonArnsdorf, Messen Lytaneien und Oratorien aufgeführt, die jeder Cathedralkirche Ehregemacht haben würden; es wurden dazu eigne Sängerinnen bestellt, nämlich die 2Töchter des Hr. Chorregenten Peringer von Burghausen, Fanny und Josepha, diesich sowohl durch ihren schönen Gesang, als auch durch ihr artiges Benehmenvorzüglich auszeichneten.“
In Arnsdorf wirkte Gruber 21 Jahre (1807- Ende 1828) als Lehrer, Mesner und Organist. Die Begegnung mit den Pilgern und seine Verantwortung für das Wallfahrtsgeschehen, machten ihn zu einer angesehenen Persönlichkeit in Arnsdorf. 1816, als Salzburg zu Österreich kam, wurde die Salzach zur Grenze, Oberndorf wurde von der Stadt Laufen getrennt und wurde eine eigene Pfarre. Gruber übernahm auch dort die Stelle des Organisten, leitete den Kirchenchor und genoss ein gewisses Ansehen als begnadeter Musiker. Der kleine Zuverdienst war auch willkommen. Ein Jahr später, 1817, kam Joseph Mohr als Hilfspriester nach Oberndorf.
Über die Begegnung der beiden werde ich im nächsten Blog meine Gedanken preisgeben.
In den vergangenen Blogs haben wir uns Gedanken über die Geschichte hinter den einzelnen Strophen von STILLE NACHT gemacht.
Ist schon alles gesagt? Oh, nein, noch lange nicht! Das Thema von heute: Joseph Mohr, der Priester
Es gibt viele schöne Legenden, die berühren – auch genug über Stille Nacht. Stille Nacht berührt aber irgendwie anders, oder? Ist dieses Lied nicht mehr als „schön“?
Sollen wir Philosophen, Theologen oder vielleicht Künstler danach fragen? Die hätten doch alle einiges dazu zu sagen!
Ich will mit dir einen anderen Weg gehen: ich will den beiden Schöpfern von Stille Nacht, Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber, direkt begegnen.
Heute betrachten wir – besser: begegnen wir – dem Priester Joseph Mohr. Im nächst Blog dem Lehrer Franz Xaver Gruber. Und im übernächsten Blog – noch vor Weihnachten – machen wir uns Gedanken über die Begegnung der beiden.
Stell dir vor, vor gut 200 Jahren, 1792, als Joseph Mohr geboren wurde, herrschte noch ein Erzbischof als geistlicher Fürst über Salzburg, also ein Herrscher über „Himmel und Erde“. Das Bürgertum aber beginnt sich nach der Französischen Revolution zu emanzipieren. Durch Jahrhunderte gewachsene Strukturen und Traditionen beginnen sich aufzulösen. Der liebe Gott und seine „Vertreter auf Erden“ haben Macht eingebüßt, es sind keine Mächte im Hintergrund, die unser Schicksal lenken. Auch ICH habe Verantwortung zu übernehmen! Die Schutzheiligen haben ausgedient! Welche Herausforderung! Die Zeit der Aufklärung ist auch die Zeit der Suche nach Identität. Also eine Zeit gravierender Umbrüche in Kirche und Gesellschaft, mit schmerzhaften Spannungen zwischen Aufbruch und Bewahrung.
Joseph Mohr wurde in Salzburg als lediges Kind geboren. Die Mutter, Anna Schoiber, hat den desertierten Soldaten Joseph Mohr (sen.) als Vater angegeben. Taufpate war der wohlhabende Scharfrichter Wohlmuth! Er wollte auch was Gutes tun! Ein lediges Kind damals, für die Gesellschaft ein Kind der Schande, für die Kirche ein Kind der Sünde! Anna musste dafür auch Strafe zahlen. Im Fornikationsprotokoll (=Hurenprotokoll) gab sie an, auf dem Mönchsberg ein „fleischliches Verbrechen“ begangen zu haben. Anna hatte vier ledige Kinder – von verschiedenen Männern! Also: kein guter Ruf! Welche Demütigung! In diese gesellschaftlichen Umstände wurde Joseph Mohr hinein geboren! Es ist eine Welt, aus der heraus auch die Kleinkriminellen stammen!
Traust du dir ein Urteil über Anna Schoiber zu? Nein, gell?! Wir fühlen mit ihr, oder? Was steckt da dahinter? Als Anna 8 Jahre alt war, hat sie ihren Vater verloren, er war Salzschreiber in Hallein. Gerade in diesem Alter, beim Erwachen ihrer Sehnsüchte als junges Mädchen, hätte sie ihn so dringend gebraucht. So blieb sie mit ihren Träumen allein. Mit der Übersiedlung in die Stadt Salzburg hat sie auch ihre Freunde in Hallein verloren. Ihren Lebensunterhalt in Salzburg bestritt sie als Strickerin. – die Sehnsucht nach Liebe blieb.
Ob Anna mit dem kleinen Joseph zärtlich umgegangen ist, wissen wir nicht. Aber die Liebe, die vielleicht nur aus Sehnsucht bestand, hat den Buben so stark gemacht, dass diese Liebe beim kleinen Joseph zu Musik wurde. Seine Stimme war so schön, dass ihn der Domchorvikar Hiernle für den Knabenchor in St. Peter entdeckte und ihm eine Ausbildung ermöglichte. So kam Joseph Mohr zum Priestertum. Ob das eine ganz freiwillige Entscheidung war? Auf alle Fälle war Mohr ein Vollblutmusiker. Mit zwölf spielte er schon die Violine im Universitätsorchester in der Kollegienkirche – Balsam für sein Selbstbewusstsein! Als es in der napoleonischen Zeit (1809/1810) in Salzburg allen richtig schlecht ging, verdiente Mohr sein Studium als Musiker in Kremsmünster. – aber: registriert als „elternlos“! Nur Hiernle wird als Ziehvater genannt. Wie denn das?
Hat Joseph Mohr seine Mutter verleugnet? Hat er seine Herkunft verdrängt? Ich glaub, solche Schattenseiten des Lebens waren einfach Tabu. Ein Musiker kennt „Gott und die Welt“, spielt seine Rolle in der Gesellschaft und im kirchlichen Geschehen – da war einfach kein Platz für Schande! Ich sehe Mohr als einen, der im täglichen Leben seine innere Zerrissenheit durch Musik und Aktionismus überspielt hatte. Es werden ihm auch aufmüpfige Charakterzüge gegenüber der kirchlichen Obrigkeit nachgesagt. Ich glaube, er war ein frommer Draufgänger mit betäubtem schlechten Gewissen! Und wie ging es ihm auf seiner ersten Dienststelle als Priester in Mariapfarr?
In der Stadt Salzburg hatte Joseph Mohr seine Rolle gespielt. Als Musiker eingebettet im gesellschaftlichen Leben, erfolgreich im Studium der Theologie, offen für das moderne Denken der Aufklärung, angesehen als angehender Priester, …. Und jetzt in Mariapfarr?
Weit weg von den Freunden in der Stadt Salzburg, beschwerliches Landleben, Mitarbeit in der Landwirtschaft, Allein im kalten Pfarrhof! Mit-Priester, – verständnisvoll für die neuen Ideen dieses jungen Priesters aus der Stadt? Die schlichte Gläubigkeit der Pilger aus dem ganzen Lungau hat ihn wohl daran erinnert, worauf es wirklich im Leben ankommt. „Was mach ich jetzt mit meiner Theologie?“ mag er sich gefragt haben.
Jetzt, in der Einsamkeit, bricht sie erbarmungslos herein, seine verdrängte persönliche Geschichte, die er sein ganzes Leben hindurch verdrängt hatte. „Wer bin ich, was will ich, was kann ich …“. Alle diese Fragen eine einzige Qual – voller Scham? Seine Berufung und seine Ideale als Priester, seine Sehnsucht nach Liebe, das alles muss ihn herzzerreißend hergenommen haben. Ich bin mir ganz sicher, dass er Nächte durchgeweint hat.
Vor Schmerz gekrümmt am Boden liegend, allein, von jeder Theologie verlassen – – dann: „schau! – ich bin nicht allein, ich hab einen Bruder, als Kind hilflos wie ich! Auch ich bin geborgen in den Armen der Mutter!“ Es waren Geburtsschmerzen, die sich jetzt in Freude verwandeln! Seine Theologie hat plötzlich Leben bekommen – Trost, Vertrauen, Hoffnung. „Ich bin nicht ein Kind der Schande, sondern ein Kind der Liebe“. Er besingt seine Freude in einem Gedicht: Stille Nacht. Er hat es nur für sich geschrieben – bis er zwei Jahre später einen Freund fand, mit dem er es teilen konnte. Franz Xaver Gruber, Lehrer in Arnsdorf.
Im letzten Blog haben wir die Moralisten „aufs Korn“ genommen.
Heute schlagen wir mit der sechsten und letzten Strophe von Stille Nacht wieder sanftere Töne an. Stille Nacht – Eine Hirtenidylle?
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht
Durch der Engel Halleluja,
Tönt es laut bei ferne und nah:
Jesus der Retter ist da!
Jesus der Retter ist da!
Ein idyllisches Hirtengedicht?! Nein! Stell dir vor: Joseph Mohr, zu Weihnachtzeit 1816, allein im kalten Pfarrhof in Mariapfarr! Um diese Zeit ist es im Lungau normalerweise besonders kalt. Eine Zeit für romantische Hirtenidylle? Unmöglich! Was dann? Seine Lage war wohl ähnlich wie bei den Hirten nahe Betlehem vor 2000 Jahren: ganz auf sich gestellt, still rundherum! Einsam? Ich glaub es nicht! Denn im Leben fest verankert ist niemand einsam, so wie die Hirten – und die Engel, sie verkünden mit lautem „Halleluja“: „Jesus der Retter ist da!“ – Die Engel, sind das vielleicht seine innerste Stimme, die jubelt, ohne klar zu verstehen, von wo dieses Glück herkommt, aus purer Freude am Leben!
Wenn es dir einmal schlecht geht, deine Situation aussichtslos erscheint, wenn du verzweifelt bist, wenn du vor den Trümmern deiner Vergangenheit stehst, dann siehst du vielleicht nur Nebel – alles grau in grau. Wenn es aber still wird und du zur Ruhe kommst, dann wirst auch du Engel singen hören, die Nebel werden sich lichten und deine Ohren werden offen für leise Töne werden! Alles, was du dein Leben lang verdrängt hast, dich heute quält, wird morgen vergessen sein, dann wirst auch du überschwänglich „Halleluja“ singen. Joseph Mohr hat die Hirten bei ihren Schafherden gesehen – weit weg vom mächtigen Tempel in Jerusalem, fern von herrschenden Strukturen – aber mitten im Leben!
Einfachheit und Bescheidenheit, mitten im Leben, das sind Machtfaktoren! Sie reißen Mauern nieder und öffnen Türen zur Begegnung von ICH und DU! DA geschieht Leben! DAS ist es, was die Welt verändert! Hirten, am Rand der etablierten Gesellschaft, jubeln auf dem Weg zu einem neugeborenen Kind im Stall – und treffen auf eine Familie, die keine Herberge gefunden hatte, Obdachlose, Flüchtlinge, Asylanten – eine göttliche Begegnung, die einfache Hirten erleben! Wäre eine solche Begegnung auch im Salzburger Dom möglich?
Die katholische Kirche ist Joseph Mohrs geistige und spirituelle Heimat, als Priester ihr Repräsentant. Er nimmt aber in seinem Weihnachtsgedicht Stille Nacht keinerlei Bezug zu ihr. Wie denn das? Spielt sie für ihn keine Rolle? Müsste er nicht immer wieder für sie eintreten, sie verteidigen oder auch gegen jedwede Missstände revoltieren? Joseph Mohr benützt nicht die Kirche für sein Weihnachtsgedicht, ist nicht abhängig davon, in der Kirche steckt aber der KERN der christlichen Botschaft, die das Lied ausmacht, manchmal tief vergraben unter Strukturen der Macht. Er ist aber immer „keimfähig“ geblieben und drängt immer wieder unbändig ans Licht und bringt Früchte wie Stille Nacht hervor.
Jede der 6 Strophen beginnt mit Stille Nacht! Heilige Nacht! Steckt da nicht alles drin, was das Lied ausmacht? Die Nacht hat nichts Bedrohliches. Sie strahlt viel mehr intime Geborgenheit aus. Sie ist Mutterschoß. Sie schützt das Leben vor dem grellen Tageslicht. Das Tageslicht ist nur für das geschäftige Treiben da. Im Schoß geschieht das Leben, in der Stille. Das ist heilig.
Im nächsten Blog betrachten wir das Leben Joseph Mohrs. Vielleicht entdecken wir dort den Kern der christlichen Botschaft – in Stille Nacht?
Im letzten Blog haben wir die 4. Strophe von Stille Nacht als DAS FRIEDENSLIED betrachtet.
Heute: Friede, ein moralischer Appell?
5. Strophe
Stille Nacht! Heilige Nacht! Lange schon uns bedacht, Als der Herr vom Grimme befreit In der Väter urgrauer Zeit Aller Welt Schonung verhieß, Aller Welt Schonung verhieß.
Diese Strophe richtet sich gegen alle Weltuntergangs-Prediger, gegen die Pessimisten, gegen die Kleingläubigen, gegen die Moralisten, gegen alle Menschen, die die Welt in „Gut“ und „Böse“ einteilen wollen! Sie glauben sie seien Säulen des Anstands in der Gesellschaft, sie treten aber die Würde der Menschen mit Füßen – die Würde der Völker, die Würde der Schöpfung!
Es lastet KEIN Grimm auf der Schöpfung. Die Schöpfung ist befreit von Schuld, wir sind Teil ihrer Würde, hoch erhaben über Kirchturm-Kleingeister. Die Geschichte ist nicht vom ewigen Verderben bedroht! Der „Herr“ richtet nicht, er ist kein Herrscher, kein Gebieter. Unsere „Verfehlungen“ interessieren ihn nicht! Lies in der Bibel das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ = es ist die Geschichte vom „Barmherzigen Vater“ (Lk. 15, 11-32)! Siehst du: Gottes Macht liegt in der Güte, er sieht gar nicht die Schuld, und er lässt sich von keiner Instanz religiös vereinnahmen. Wir sind keine verlorenen Schafe und keine unterdrückten Sklaven! – Kann mir jemand aus dieser Strophe was anderes herauslesen? ….. Warum wird es jetzt so still ….!?
Nimm die Moralisten nicht zu ernst, sie sind oft keine ehrlichen Makler, sie kauern eingesperrt hinter Mauern, in ihrer eigenen Welt. Sie glauben die Menschheit von dort heraus retten zu müssen. Sie spenden dir keinen Trost. Hilflos vertrösten sie dich auf das Jenseits, was hilft dir das zum Leben im Hier und Heute?
Der Glaube des katholischen Priesters Joseph Mohr heißt Freiheit! – geborgen in den Armen des Schöpfers! Kein Platz zum Klagen, nur Lobpreis! Hat er dabei den wahren Glauben verloren? Eine unnütze Frage! Seine Botschaft im Weihnachtsgedicht Stille Nacht ist die Froh-Botschaft seine christlichen Glaubens – es entstand damals, als er ganz auf diesen Glauben angewiesen war.
Die Hüter von Sitte und Moral in der Kirche sind es für Mohr nicht wert, sie beim Namen zu nennen: Er sagt es ohne Worte in seinem Weihnachtsgedicht: vergiss die Moralprediger! Du bist frei – schon immer gewesen! Deine Verantwortung für das Leben ist Geschenk, keine erdrückende Bürde, vergiss deine Minderwertigkeitsgefühle! Deine Selbstzweifel drängen dich nur in lähmende Starre. Verscheuche all diese Plagegeister! Du bist ein Teil der Schöpfung, du mit deiner krummen Nase, mit deinen O-Beinen, mit deinem schrulligen Blick, ….. – so wie du bist!
Im nächsten Blog betrachten wir in der sechsten und letzten Strophe die Hirten mit ihren „offenen Ohren“ – keine Schäferidylle!
Im letzten Blog haben wir den Lobpreis an die Hoffnung in der 3. Strophe betrachtet.
Heute, die 4. Strophe: Stille Nacht, DAS Friedenslied.
4. Strophe
Stille Nacht! Heilige Nacht! Wo sich heut alle Macht Väterlicher Liebe ergoss Und als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt. Jesus die Völker der Welt.
HEUTE – nicht gestern, nicht morgen, nicht vor 2000 Jahren – HEUTE hat sich väterliche Liebe über uns ergossen – wie, von woher? Vom Jenseits? Das sind akademische Fragen, sind sie wichtig? Wir aufgeklärten Leute wollen immer alles ergründen, wo die Dinge ihren Ursprung haben, warum etwas wie passiert, …. Das ist ja OK! Aber stell dir mal vor, du lässt alle diese Fragen beiseite und du schaust einfach nur, und bist ganz Ohr, still, da entstehen Gedanken und Gefühle jetzt – und da hörst du jemanden flüstern/leise singen: väterliche Liebe – huldvoll umschloss – heute – Bruder/Schwester – Familie – Jesus – wir gehören zusammen – die Völker der Welt – dann Stille…
Joseph Mohr träumt nicht vom Jenseits, er steht mitten im Leben, als Priester im Pfarrhof in Mariapfarr, seine Gedanken und Gefühle münden in Stille Nacht, es war sein Hier und Jetzt – in dieser Welt, wo du und ich heute zu Hause sind, wir sind nicht allein, die Völker sind nicht Fremde, weder die Russen, noch die Kongolesen noch die Perser, noch die Inder, noch die Latinos. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Das schreibt Joseph Mohr, nachdem nur wenige Jahre zuvor noch die europäischen Völker sich einander in mörderischen Kriegen zerfleischt hatten. Was für ein Gedicht, eingebettet in diese Geschichte!
Stille Nacht drückt Friedenssehnsucht aus, ohne Friedens-Appell einer Moralinstanz, Stille Nacht ist ein Lobpreis an den Frieden, den Joseph Mohr auch in sich selbst gefunden hatte. Versöhnt mit seiner persönliche Geschichte, bricht er in Jubel aus, weil es jemanden gibt, der sein Leben als Bruder teilt. Mohr besingt nicht Jesus als Opfer, noch die Erlösung am Kreuz, er beklagt nicht das Leiden, das Leben dahinter zählt – und die Heiligen spielen auch keine Rolle, er preist das pure Leben, das in väterlichen Händen ruht.
Bist du gläubig? Ja? Es glaubt ja jeder Mensch an etwas, es muss doch ein „höheres Wesen“ geben, oder? Joseph Mohr scheint ein Atheist gewesen zu sein! Sein Glaube zielt nämlich nicht ins Jenseits, er glaubt nicht an eine höhere Macht, der wir unterworfen sind. Er spielt nicht das gefährliche Spiel mit Gott hoch droben, mit dem sich auch „trefflich“ Macht auf Erden ausüben ließe! Schau in die Geschichte hinein, wie viel Blut ist im Namen der Religion geflossen!
Joseph Mohr also ein Atheist? Er muss ein guter Theologe gewesen sein. Bei ihm haben Glaube und Leben hier und jetzt zusammengefunden.
Die Israeliten haben Jahwe als ihren Gott erfahren, weil er sie aus der Knechtschaft und aus der Wüste ins gelobte Land geführt hat. Die Psalmen besingen überschwänglich diese Befreiung! Die gleiche Erfahrung hat Joseph Mohr gemacht: Der Rucksack seiner Vergangenheit hatte schmerzhaft gedrückt. Aber die bitteren Tränen in schlaflosen Nächten in der Einsamkeit in Mariapfarr haben sich in süßen Honig verwandelt. Ein zartes Licht in der Ferne hatte ihm Hoffnung gegeben – und die Gewissheit der Rettung aus seiner dunklen Nacht. Er hat Geborgenheit im Glauben gefunden, wie ein kleines Kind in den Armen der Mutter.
Mohr spricht zärtlich von Vater, Bruder, huldvoller Umarmung, …. HIER begegnen einander Himmel und Erde. Das ist die Frohbotschaft der Menschwerdung Gottes, die Joseph Mohr verkündet. Sie mündet in einen schlichten Lobpreis, denn wir SIND Brüder/Schwestern. Hier ist kein Platz für eine Moralpredigt!
Im nächsten Blog betrachten wir die 5. Strophe. Die Moralisten werden dort ein Auge zudrücken müssen, …. Aber nur EIN Auge, bitte!!!